Am 22. September hat das Stimmvolk mit grosser Mehrheit die Reform der zweiten Säule verworfen. Und zwar mit über zwei Drittel der Abstimmenden (67.1%). Mich beschäftigt das sehr. Zum einen, weil wir - schon wieder - eine Chance verpasst haben, unsere Altersvorsorge in der Schweiz an die heutige und zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen anzupassen. Zum anderen aber, weil hier ganz offenbar Stimmvolk und Parlamentsmehrheit komplett aneinander vorbei gelegen sind. Auch das gibt zu Denken.
Die BVG-Reform war von einer breiten bürgerlichen Mehrheit getragen und verabschiedet worden. Entsprechend war das Gesetz kompliziert - es war eine gutschweizerische Kompromisslösung, bei dem zum Beispiel auch Ausgleichszahlungen vorgesehen waren. Und es hätte vor allem Geringverdiener - oft Jugendliche und Teilzeit-arbeitende Eltern im Niedriglohnsektor - besser abgesichert.
Aber das Stimmvolk hat eine sehr, sehr klare Entscheidung getrofen. Zwei Drittel der Abstimmenden sagten nein. Aus Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern habe ich wiederholt den Eindruck, dass die Dringlichkeit nicht gesehen wurde; aus den Pensionskassen wurde im Wahlkampf von der Gegenseite ein Buhmann gemacht - sie hätten genug Geld, man solle nicht noch mehr reinzahlen. Und überhaupt: wer kommt noch draus bei Mindestumwandlungssatz und Koordinationsabzug? Das Runterspielen der Dringlichkeit, die Neid-Debatte und die Komplexität haben einen ernstgemeinten Reformversuch von Parlament und Bundesrat beerdigt.
Das führt mich zur Frage: sind wir eigentlich als Land fähig, unsere Errungenschaften - ein starkes Rentensystem, eine Wirtschaft mit vielen Arbeitsplätzen, kurz gesagt: den Wohlstand der heutigen Generation, wirklich auch für die Zukunft fit zu machen? Ich glaube schon, aber dafür müssen wir in der Politik viel, viel stärker als zuvor in den Dialog mit der Bevölkerung treten. Wir müssen ernst nehmen, dass viele Menschen - vor allem nach der Corona-Zeit - das Gefühl haben, sie hätten bereits genug zu tragen. Dass wir auch wieder verstärkt über Verantwortung sprechen - füreinander in der Gesellschaft, aber auch über die Verantwortung von Unternehmen und Staat. Das sind erste Gedanken, noch nicht ausgereift. Aber der Denkprozess muss jetzt beginnen.